Wasserstoff: Ohne MENA-Länder geht es nicht
Die Länder Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten und Saudi-Arabien könnten einen relevanten Beitrag zur Versorgung Europas mit CO₂-neutralem Wasserstoff leisten. Bei dessen Produktion und dem Import besteht ein hohes Kooperationspotenzial zwischen Europa und der MENA-Region. Eine Studie des Fraunhofer Cluster of Excellence Integrated Energy Systems (CINES) in Zusammenarbeit mit Geostock beziffert, welche Wasserstoffproduktions- und Importmengen der Europa-MENA-Region technisch machbar sind.
Der REPowerEU-Plan sieht vor, dass bis zum Jahr 2030 zehn Millionen Tonnen (umgerechnet rund 330 Terawattstunden, TWh) erneuerbarer Wasserstoff für den Einsatz in verschiedenen Sektoren innerhalb der EU produziert sowie weitere zehn Millionen Tonnen auf verschiedenen Wegen (Pipelines, Schiffe) importiert werden. Die in der CINES-Studie „Clean hydrogen deployment in the Europe-MENA region from 2030 to 2050: A technical and socio-economic assessment“* durchgeführte technische Kostenoptimierungsanalyse zeigt jedoch, dass die europäische Produktionskapazität für erneuerbaren Wasserstoff bis 2030 4,3 Millionen Tonnen (143 TWH) und bis 2050 36 Millionen Tonnen (1.189 TWh) betragen könnte. Das REPowerEU-Ziel einer H2-Produktion von zehn Millionen Tonnen pro Jahr werde möglicherweise erst zwischen 2035 und 2040 erreicht.
Wasserstoff: Deutschland hat höchsten Importbedarf in der EU
Für Deutschland prognostizieren die Studienautoren in den kommenden Jahrzehnten den mit Abstand höchsten Wasserstoffverbrauch der untersuchten europäischen Staaten. Er liege mit rund 84 TWh (2,5 Millionen Tonnen) im Jahr 2030 und 492 TWh (15 Millionen Tonnen) im Jahr 2050 mit weitem Abstand über den Verbräuchen anderer großer europäischer Volkswirtschaften wie Niederlande, Frankreich, United Kingdom und Italien (Faktor 2,5 in 2030 und 2,0 in 2050). Allerdings könne Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts lediglich 24 TWh und bis zur Mitte des Jahrhunderts 226 TWh durch heimische Erzeugung selbst decken. Dementsprechend sei der Aufbau verlässlicher Importwege zur Bedarfsdeckung für Deutschland von großem Interesse. Wobei nicht nur Wasserstoff, sondern auch Wasserstoffderivate für die Industrie unverzichtbar seien.
MENA-Länder haben großes Potenzial für Wasserstoffexporte
Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend und wichtig, die Länder der MENA-Region (Nordafrika, Naher und Mittlerer Osten) mit ihren „kosteneffizienten Potenzialen“ bei der Wasserstofferzeugung für eine Zusammenarbeit zu berücksichtigen. Die CINES-Analyse zeigt ein erhebliches technisch-ökonomisches Potenzial für Wasserstoffexporte aus Ländern der Region. Sie dürfte künftig eine wichtige Rolle bei der Versorgung Europas mit grünem Wasserstoff spielen. Die wind- und sonnenreiche Region verfügt über großes Potenzial, um per Elektrolyse grünen Wasserstoff zu vergleichsweise geringen Kosten herzustellen. Darüber hinaus sind die Transportwege für Wasserstoff und daraus hergestellter Derivate aus den MENA-Ländern in die europäischen Verbraucherstandorte deutlich kürzer verglichen mit anderen potenziellen Lieferregionen in Übersee.
So könnten bereits bestehende Erdgas-Pipelineverbindungen genutzt bzw. erweitert werden, wie im Falle des „South H2 Korridor“-Vorhabens von Tunesien und Algerien über Sizilien bis nach Bayern, und neue Pipelines, wie das EastMed-Projekt hinzukommen. Die geplante Pipeline „EastMed“ soll zunächst Erdgas aus dem Nahen Osten über eine Distanz von 1900 Kilometern quer durch das östliche Mittelmeer über Zypern, Kreta und das griechische Festland nach Italien bringen. Damit könnten Länder wie Israel, Libanon, Ägypten und Zypern Gas aus ihren Fördergebieten direkt ins europäische Netz einspeisen. Über Griechenland sollen die Balkanregion und Osteuropa, von Italien aus Nordwesteuropa versorgt werden. Die Pipeline soll technisch so ausgelegt sein, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt auch grünen Wasserstoff transportieren könnte.
MENA-Region könnte rund mehr als die Hälfte des EU-Bedarfs in 2030 decken
In der CINES-Studie werden insbesondere Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten und Saudi-Arabien als Schlüsselakteure für die Verwirklichung des REPowerEU-Importziels identifiziert. Bei einer für die Schengen-Länder und Britischen Inseln angenommenen Wasserstoffnachfrage von rund 380 TWh im Jahr 2030 könnten Wasserstoffimporte aus diesen Ländern laut CINES-Studie gut 60 Prozent des Bedarfs decken. Knapp 40 Prozent der H2-Nachfrage würde durch die Produktion in Europa (143 TWh) gedeckt. Ammoniakimporte per Schiff, die ab 2030 eine wichtige Rolle spielen sollen, könnten mit 95 TWh zur Bedarfsdeckung beitragen. Im Jahr 2050 könnten Importe aus den sechs MENA-Staaten rund 40 Prozent des europäischen Bedarfs von insgesamt rund 2000 TWh Wasserstoff ausmachen. Der Großteil der Importe aus diesen Ländern nach Europa müsste laut CINES über Pipelines erfolgen. Die andere Hälfte würden die europäischen Staaten bis auf wenige Prozente, selbst erzeugen.
CINES: „Marokko ist vielversprechendster Partner“
Marokko könnte sich laut der CINES-Analyse zum größten Wasserstoffproduzenten der MENA-Region entwickeln. Das nordwestafrikanische Land zeichne sich nach Auswertung aller erhobenen sozioökonomischen Aspekte durch das höchste Power-to-X-Potenzial aus. So biete es beispielsweise die größte politische Stabilität in der Region, gepaart mit dem geschätzt höchsten technischen Speicherpotenzial (mehr als 1.000 TWh) und den geringsten zu erwartenden Erzeugungskosten. Letztere sind für das Jahr 2030 mit 76,2 Euro/MWh und für 2050 mit 49,5 bis 79,0 Euro/MWh veranschlagt. Ägypten liegt als bei den Produktionskosten nächstplatzierter Staat in den Fraunhofer-Bewertungen rund 3 bis rund 6 Euro darüber. Das Land verfügt zudem über eine geringere politische Stabilität und ein sehr begrenztes Speicherpotenzial von weniger als 1 TWh.
Das Wasserstoffexportpotenzial Marokkos, das sich nach Abzug des eigenen einheimischen Bedarfs ergibt, sehen die Forschenden allerdings auf jährlich 376 TWh begrenzt – ausreichend für den errechneten Importbeitrag. Libyen und Ägypten könnten potenziell jeweils zehn- bis elfmal so viel exportieren.
Energiepartnerschaft Marokko
Zwischen Marokko und Deutschland gibt es bereits eine Kooperation. Am Rande des Atlasgebirges entsteht nahe der 80.000-Einwohnerstadt Ouarzazate die erste industrielle Referenzanlage für grünen Wasserstoff in Afrika. Diese wiederum bezieht ihren Strom von einer der größten Solaranlagen der Welt: dem Noor-Kraftwerk. Es versorgt 1,3 Mio. Menschen mit Strom und entstand in Zusammenarbeit mit dem deutschen Bundesentwicklungsministerium. Mit der neuen Anlage soll die effiziente Gewinnung von grünem Wasserstoff und grünem Ammoniak erprobt werden. Die Anlage dient laut dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung „als Anschauungsobjekt dafür, dass die Produktion von grünem Wasserstoff in Afrika rentabel möglich ist und soll so das Vertrauen privater Investoren in den nordafrikanischen Standort stärken“.
Hoher Bedarf an Speichern und Transportpipelines
Laut CINES-Studie reichen bis 2030 die derzeitigen Salzkavernenspeicher in Europa für die Wiederverwendung aus. Bis 2050 seien zusätzliche umgenutzte und neue Wasserstoffspeicherkapazitäten von 216 TWh erforderlich. Eine rein theoretische Analyse des technischen Potenzials für die Wasserstoffspeicherung in Salzkavernen in den ausgewählten MENA-Ländern zeigt ein gutes Potenzial in Marokko und Algerien und ein gutes bis mittleres Potenzial in Saudi-Arabien. Für die Länder mit begrenztem Speicherpotenzial in Salzkavernen müssen laut CINES-Studie andere Alternativen wie z. B. die Wiederverwendung erschöpfter Öl- und Gasvorkommen, untersucht werden. Die technischen Einschätzungen zu den Importen aus der MENA-Region und der heimischen Produktion haben auch einen erheblichen Einfluss auf den künftigen Infrastrukturbedarf Europas. Dabei wird laut CINES-Studie dem Kapazitätsrückgang der Erdgaspipeline-Infrastruktur ein Zuwachs von Wasserstoffpipelines gegenüberstehen, der auf einen erheblichen Anteil umgenutzter Gaspipelines sowie ab vor allem ab 2050 auf einen Neubau von Pipelines basiert. Es ist möglich, größere Mengen an Wasserstoff durch die Umnutzung der bestehenden erdgasbasierten Infrastruktur zu integrieren. Hier könnten die MENA-Importe per Pipeline mittelfristig zur europäischen Energiesicherheit beitragen.
EastMed-Pipline könnte Zugang zu künftigen Wasserstoffproduzenten in Nahost schaffen
Im östlichen Teil des Mittelmeers wurde Erdgas unter dem Meeresboden in Gebieten, die zu Ägypten, Israel, der Türkei und Zypern gehören, Erdgas gefunden, und es wurden Konzessionen für die Exploration erteilt. Die geplante EastMed-Pipeline soll Gas aus den Offshore-Lagerstätten bei Israel und Ägypten über Zypern und Griechenland zu den europäischen Märkten transportieren und dabei die Poseidon-Verbindungsleitung in Italien nutzen.
Die Leitung könnte Europa direkt mit den Gasfeldern im östlichen Mittelmeer verbinden und zugleich Möglichkeiten des Zugangs zu künftigen Zentren der Wasserstoffproduktion in der Region eröffnen. er. In Übereinstimmung mit den Zielen und Ambitionen von REPowerEU, verweist die CINES-Studie auf die Möglichkeit, die EastMed“-Pipeline als CO₂-neutrale Wasserstoffpipeline auszuweisen und zu entwickeln. Das Mittelmeer-Erdgas könnte z.B. durch Methanpyrolyse in Wasserstoff und festen Kohlenstoff umgewandelt werden und in die EastMed-Pipeline eingespeist werden. Darüber hinaus könnten die Pipeline mit den Produktionsstätten in NEOM im Nordwesten Saudi-Arabiens und Sharm El-Sheik in Ägypten verbunden werden.
Das Vorhaben „EastMed-Pipeline“ böte auch die Option, sauberen Wasserstoff aus Ägypten und Saudi-Arabien nach Europa zu transportieren.
Das würde es diesen MENA-Ländern ermöglichen, sauberen Wasserstoff zum europäischen Wasserstoff-Backbone zu transportieren. Die Herstellung der Wasserstofftauglichkeit des EastMed-Verkehrs würde so den Ambitionen der beteiligten Länder zur Dekarbonisierung dienen und die Transport- und Versorgungsoptionen Europas diversifizieren. Allerdings stehen dem Vorhaben eine Reihe politischer Probleme aufgrund regionaler Rivalitäten entgegen – vor allem die langanhaltenden Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland sowie die Tatsache, dass das EastMed-Pipelinenetz auch Israel einschließen würde, zu dem Saudi-Arabien derzeit keine diplomatischen Beziehungen unterhält.
Importstrategie muss auch gesellschaftliche, politische und ökologische Aspekte berücksichtigen
Zu bewerten sind im Hinblick auf die künftige Verwendung von grünem Ammoniak zudem generelle Risiken, die sich durch Unglücke, wie etwa eine Havarie ergeben können. Immerhin ist Ammoniak sehr giftig. Anders als bei fossilem Öl wären die möglichen Folgen zwar wohl eher kurzfristig, ausgeblendet werden sollten die Risiken dennoch nicht. Die DNV sieht hier „erhebliche, aber nicht unüberwindbare“ technische und sicherheitstechnische Herausforderungen.Die Produktion und der Import von sauberem Wasserstoff aus der MENA-Region haben ein erhebliches Potenzial. Es ist aus Sicht der Autoren der CINES-Studie eine genaue Bewertung der Entwicklungen und Anforderungen in den Bereichen Produktion, Versorgung, Import, Speicherung und Infrastruktur erforderlich, um eingehende Einblicke in die Machbarkeit der Erschließung dieses Potenzials zu gewinnen. Darüber hinaus müssten auch sozioökonomische und politische Aspekte des Wasserstoffeinsatzes einschließlich und strenger Nachhaltigkeitskriterien und des Primärenergiebedarfs der MENA-Länder im Kontext künftiger Wasserstoffimporte aus den MENA-Ländern berücksichtigt werden. Die europäischen politischen Entscheidungsträger und die Industrie haben nach Ansicht von Dr. Jan Frederik Braun, Leiter Wasserstoff-Kooperationen (MENA-Region) im CINES, noch keine kohärente Strategie für Wasserstoffimporte vorgelegt. Diese Uneinigkeit sollte durch eine koordinierte europäische Importstrategie ersetzt werden, die erneuerbare und kohlenstoffarme Wasserstoffquellen ausbalanciert. Diese sollte auf einer fundierten Bewertung der Produktions- und Nachfragekapazitäten in ganz Europa sowie der Exportpartner der MENA-Region basieren.
*CINES-Studie „Clean hydrogen deployment in the Europe-MENA region from 2030 to 2050“. A Technical and Socio-Economic Assessment. Autoren: Jan Frederik Braun, Felix Frischmuth, Norman Gerhardt, Maximilian Pfennig, Richard Schmitz, and Martin Wietschel (Fraunhofer CINES) Benjamin Carlier, Arnaud Réveillère, Gilles Warluzel, and Didier Wesoly (Geostock), April 2023 Download (PDF)